1. Lachen oder weinen?

Als einer meiner Freunde letztes Jahr in die USA auswanderte, überließ er mir einen Teil seiner recht umfangreichen Kunst-Bibliothek. Darunter befanden sich auch annähernd tausend Kataloge, die in den vergangenen 4 Jahrzehnten anlässlich von Ausstellungen produziert worden waren.

Als ausgewiesener Liebhaber moderner Kunst vertiefte ich mich von Zeit zu Zeit in diese „Werbebroschüren für bildende Künstler“, die sie ja in der Tat sind, und machte dabei eine ganz bemerkenswerte Entdeckung: wo über zeitgenössische Kunst geschrieben wird, werden die sonst üblichen Regeln der Kommunikation – wie etwa das Gebot der Verständlichkeit – oft vollkommen außer Kraft gesetzt. Wodurch wieder eine eigene, sozusagen kunstsprachliche, Qualität entsteht.

Warum das so ist (so sein muss?) erklärt der Autor Tasos Zembylas in seinem Buch „Kunst oder Nichtkunst“ so:


Die Kunstkritik will immer überzeugen. Sie will Stringenz, Tiefsinnigkeit und geistigen Reichtum beweisen. Um das zu erreichen ist die Anwendung von sprachtechnischen rhetorischen Mitten – z.B. Fachtermini, Fremdwörtern, elaborierten Satzstrukturen – üblich und erforderlich. Deshalb hat ein(e) Außenstehende(r), weil er(sie) außenstehend ist, den Eindruck, dass die Kunstkritik einen esoterischen, kryptischen Diskurs führt. Die Kunstkritik ist in der Regel eine Sondersprache. Die Kunstkritik scheut sich nicht, die Sprache magisch, alchemistisch zu verwenden: Aus einem Kunstgegenstand soll etwas Erhabenes gemacht werden. Das Kunstwerk wird umgewälzt und transformiert; aus ihm wird eine „Aletheia“ – das heißt die Offenlegung von etwas Verborgenen – gemacht.

Die Stilisierung der Sprache der Kunstkritik erfüllt zwei Funktionen:

  1. Die Sondersprache lässt die Kunstkritik als einen philosophischen bzw. kunstwissenschaftlichen Diskurs erscheinen, was wichtig für ihren legitimatorischen Anspruch ist. Das Theoretische wird dem Empirischen gegenüber bevorzugt, ein typisches Merkmal philosophischer Sprachen.
  2. Die elaborierte Sprache schützt den Text vor einer Trivialisierung.
Die Unterscheidung zwischen „Sonderwissen“ und „gemeinem Wissen“ ist das Resultat der Mystifizierung des Kunstwerkes als Rätsel. Die Antworten auf Rätselfragen können nicht durch Nachdenken mit logischen Vernunftregeln gefunden werden. Die Antworten ergeben sich durch die Hinterfragung der Macht des Fragenden. Die Fähigkeit solche Antworten zu finden setzt aber voraus, dass man die Spielregeln des Fragenden, seine Rätselsprache gut kennt.

In einer Fußnote, die sich auf den Begriff „Sondersprache“ bezieht, heißt es weiter:

Solche Texte erzeugen nicht nur semantische Schwierigkeiten, sondern auch ein ethisches und politisches Problem. Ich möchte nicht der Forderung mancher TheoretikerInnen (wie z.B. Tolstoi) zustimmen, dass Kunst und Texte immer leicht verständlich sein müssen. Ich erkenne die künstlerische Freiheit an, auch Werke zu schffen, die nicht leicht verständlich sind. Ich möchte nur ein Problem dabei ansprechen: Kunstwerke sind manchmal unlesbar, nicht nur weil es die KünstlerInnen wollen –, sondern weil die Institutionen der Kunstvermittlung Interesse daran haben, Kunst als etwas schwer Verständliches zu präsentieren.

Mag sich aus dem hier Gesagten ein jeder seinen eigenen Reim machen. Mir stellt sich in erster Linie die Frage: Für wen sind die Texte, die sich in Ausstellungs-Katalogen finden, denn nun eigentlich gemacht: Für den unbedarften „außenstehenden“ Besucher einer Ausstellung (um ihm seine unermessliche Unwissenheit vor Augen zu führen) oder für die Riege der Fachkollegen, quasi als Beitrag zum insgeheim stattfindenden Wettbewerb „Wer kann mit Worten am besten Blei in Gold verwandeln?“

Bei dem nun folgenden kleinen, satirisch eingefärbten Rundgang durch die Texte in Kunstkatalogen, -büchern und -zeitschriften wird es Ihnen vielleicht auch so gehen wie mir: man weiß oft nicht so recht, ob man lachen oder weinen soll.


Anmerkung: Orthographie und Grammatik der Texte wurden in den meisten Fällen so belassen, wie sie zu ihrer Entstehungszeit gedruckt wurden (was ja in manchen Fällen den Unterhaltungswert ausmacht oder ihn zumindest erhöht). Nur dort, wo es der Lesbarkeit dient, wurde auf neue Rechtschreibung umkorrigiert.

Und noch etwas: Wenn Sie bei der Lektüre von Kunstkatalogen auf einen Text stoßen, der auf diese Site passen könnte, zögern Sie nicht, uns diesen zukommen zu lassen.


- Rudolf „Addi“ Schramm