4. Verhinderte Schriftsteller

Manchen Menschen ist ja in die Wiege gelegt, sich mitteilen zu müssen. Und wenn sie dann so mitten drin sind im Sichmitteilen, scheinen sie oft in eine Trance zu geraten, die sie den Inhalt und das Thema ihrer Ausführungen voll und ganz vergessen lässt. Es geht jetzt nur mehr darum, zu fabulieren, zu bramarbasieren, zu salbadern, sein Innerstes nach außen zu kehren. Was schert mich das Thema, wenn ich Herrscher der vagen Worte bin?! Heiner Bastian in dem Buch „Beuys Zeichnungen“ Bentlei Verlag Bern.

(Heiner Bastian, dessen Geburtsdaten im Internet nicht zu eruieren waren, ist ein bunter Vogel in der deutschen Kunstszene. In einem TV-Essays über Joseph Beuys wurde er mittels Untertitel als „Beuys-Vertrauter“ vorgestellt. Er selbst nannte sich recht bescheiden Kunstsammler. Später hörte man von ihm als Kurator der Sammlung Erich Marx im Hamburger Bahnhof. Nun hat er gar am Kupfergraben in Berlin ein eigenes Museum für Zeitgenössische Kunst errichtet.)

DAS BILD SOLL JEDE IMAGINATION ÜBERSCHREITEN, ABER WAS IST SEIN GRUND, WAS SOLL ES BERÜHREN? In den großen Kathedralen öffnen sich die Räume zum Mythos, aber es ist ein Mythos vom Ende aller Tage, wenn das Licht auf den Steinen ein zunehmender Schatten wird. Nichts vermag die Unerbittlichkeit dieses in äußerster Ordnung geschaffenen Werkes vor dem Dunkel zu bewahren. Sein Anblick ist die ganze Nacht, ein verlorener Augenblick, zu dem als letzte Entfernung wir immer selbst hinzukommen. Nichts berührt diese Steine also mehr als das tiefe Zeremoniell unseres Nachgebens. Der Körper tritt zurück in die Leere, weil jeder Sinn, mit dem wir Kathedralen betreten, keinen Widerhall findet.

Warum begehrt die Gedankenwelt der Kunst diesen weiten Raum, das verletzende Ablösen, die Utopien, die Manie des Dramas? Eine Stille der Hysterie führt von den Naturerscheinungen zu ihrem eignen Innen und ist zugleich erfüllt im Zurückschrecken vor den wiederkehrenden Zeichen. In ihren Mythologien spiegeln sich Räume, in denen noch immer alles vorkommen kann, nur sehen wir nicht jeden Augenblick die beharrlicher formulierte Abstraktheit ihrer Aufträge: Bilder ohne abschließenden Sinn. Die Sehnsucht zur Epik leuchtet auf, aber es geschieht nichts, denn sie ist eine Form der eignen Widerstände, die die Bilder nicht auflöst. Das ganze Wirkliche der Kunst bricht sich als dieses Schauspiel. Unendliche Formen, deren Gemeinsamkeit die unerfüllbare Versöhnung idealer und realer Universalität ist.

Das scheinbare Paradox der Kunst ist dieses Neutrum von Freiheit, die Idee des Gesamtkunstwerkes, die sie als unendliches Problem, als Transparenz ihres sozialen Sinnes wie eine tragische Beziehung erstritten hat. Die Physis ihres Traums ist opak geblieben. Ihre aufklärerischen Utopien der Versöhnung werden von einer Figur des Anfangs gesprochen, Nur ein „Ich“ bleibt von allem, das universal sein durfte, allein im Kunstwerk: bei Novalis ein geschichtlich zu realisierender Mythos, der wie beinahe jeder andere Entwurf scheiterte und indirekt die Phänomenologie einer autonomen Ästhetik begründete. Schärfer wird der Anspruch der Totalität der Kunst und absoluter, aber nicht geringer dadurch die Aufteilung von Leben und Kunst.

Während die Gesellschaft den Grad der apokalyptischen Bedrohung ohne Wahnwitz als Kampf einer immer endlosen kulturellen Unvollkommenheit alltäglich erlebt, verlieren die Ideen der traditionellen Kunst, weil ihr moralisches Bewusstsein keinen normativen Sinn haben kann. Sie ist voller Moralität und ohne Moral. Nicht einmal dort, wo ihre Mythen die Lebensfähigkeit als aktuellen Sinn noch nicht verloren haben, kann sie Zeuge oder Kläger gar jedweder sozialer Erscheinungen sein. Ihre Mythen leben, indem sie einzig nur ihre Kleider wechselt, vor jeder Vorstellung die Konversion. Nur in Augenblicken tauschen sich ihre alles aufnehmenden Kodes gegen eine Wahrheit. Es ist eine Art Wahrheit, die uns von der Hölle die Gewissheit eines neuen Aspektes der Hölle erfahren lässt. Oder die Wahrheit, mit der die christlichen Barbaren in ihrer Barbarei so ernst an ihr Christentum glaubten. Einzig in unserer Verzweiflung denken wir uns die Kunst, dass sie uns ansehe mit den Augen des Urteils, weil jede andere Vorstellung nur weiter von uns wegführen müsste. Also keine Lektion, keine Erläuterung, aber was ist das: eine sinnliche Qualität von der Unentschiedenheit der utopischen, weil immer uneinlösbaren Freiheit?

Mitten im 20. Jahrhundert überschreitet das Bild jede Imagination. Die Gleichung von der Existenz und der Sinnlosigkeit darf diese Überschreitung sein, eine Sehnsucht, nach deren Abbildern wir suchen, unaufhörlich suchen, ohne Widerstand, ohne Abnutzung. Nur einmal, in allen Ritualen des „Jüngsten Gerichts“, hat unsere Besessenheit gleich wenig sich verzehren können in solch gleich bleibenden Fiktionen. Auf der Suche nach Paradiesen endeten die Abenteuer in der Begier nach den finstersten Blumen der „unausbleiblichen Harmonie“. Ein wenig noch dient die „Rettung des Besonderen“ (Bloch) als Schönheit mit unsterblichen Mustern zu ihrer Illusion, darum kann die Kunst auch aus Religion oder Bronze sein. Neben jedes Sein tritt der Sinn der Epik wie eine magnetisierte Entität der Anlehnung. Also wiederholen die Parabeln der Kunst ein und dieselbe Ästhetik, in der der Philosoph als Orpheus erscheint.

Das Elend der abendländischen Kultur ist ihr klar ausstrahlender Bedarf nach Erfüllung, ihr asketischer Sinn nach idealistischem Grund. Was sie aus Zeit und Geschichte im einzelnen Kunstwerk nimmt, glaubt sie als ganzes Gesicht der Zeit und Geschichte zu haben. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts tut die Kunst, als habe sie zu ihren Sinnbildern auch die kausale Welt eingeladen. Aber zu wessen Rettung darf jedes Schreckgesicht eine sozialkritische Erscheinung sein? Der Geist in der Kunst, erfinderisch in seinen philosophischen Synthesen, wurde einzig durch alles, was er ablehnte, wogegen er sein wollte, worüber hinaus sein Revoltieren war, durch Konventionen entschieden. Das Bewusstsein von diesem Anspruch ist unendlich oft gebrochen, darum erscheint uns nicht mehr die Kunst, sondern nur das einzelne Kunstwerk allein in der Wüste.


An anderer Stelle...

Mit jeder Bezeichnung wird unser Wissen größer, mit jeder Bezeichnung nimmt es ab. Keine Erklärungsordnung führt uns an die Stelle dieser Transformationen. Der moralisierende Körper im Gewebe des Beuysschen Werkes ist jedoch diese subjektive Gleichungsfolge von Transformationen – die aus Zeit geschnittene Form. Sie erlaubt ihm, den Gegenstand mit der Bedeutung seiner ursprünglichen Existenz der Vergangenheit zu durchtränken. Was in der Transformation spricht, ist die Wiederbelebung, die Stimme der eigentlich aussetzenden Identität. Beuys übertritt das Verbot der Abgeschlossenheit als Methode zur Aktualisierung. In manchen Zeichnungen verharren die Zeichen im transitiven Zustand, der Ort ist unerreichbar verlagert, die Zeit steht still, nur die erstarrte Form ist ganz in Bewegung versetzt, ihre Natur ist reine, diskontinuierliche Energie.

Und weil es so schön war: Heiner Bastian die zweite, diesmal somnabule Trance über Cy Twombly.

Die Sprache der „unkenntlichen Schrift“ ist ein ferner Sinn, aber es ist ein Sinn des Subjekts. Wer immer sie schreibt, begehrt den Körper, der das widerstrebende Objekt zum Sprechen bringt. Unendlich oft fliehen wir in den Ausweg der bloßen Idee, indem wir die Sprache hinter uns lassen, weil sich eine stumme Handlung rekurriert: die Fiktion. Die Physiognomie dieses Körpers ist der vergebliche Traum, die Abwendung, der Ausweg, die Rolle des Glücks, eine mächtige Phantasie, die uns Dinge sagt, ohne zu sprechen. Das schroffe Übertreten der Sprache ist die sanfte Stimme der Legenden, die einzig in unser Leben einzieht durch Entführung. Was sie uns raubt ist das Schauspiel der Teilnahme, die figurativen Zeichen, welche das Subjekt ohne Bruch mit seinem Gegenstand in Verbindung setzt. Was sie uns mitteilt und lehrt, ist die unvorhersehbare Beziehung des Ausmalens: es geschieht, es geschieht nicht. Ich sehne mich, nur der Raum meiner Sehnsucht ist das ferne Objekt, und das Schauspiel der Teilnahme erfüllt sich in der Beharrlichkeit der scheinbar unmöglichen Aneignung. Die Sprache der unkenntlichen Schrift ist eine Struktur ohne abschließenden Sinn. Sie zeigt auf etwas, ohne ihre Aussage, ihren Gebrauch zu offenbaren. Niemals ganz: den Maler befällt eine Vorstellung des Bildes, und nichts bewahrt ihn nun vor dieser Aneignung, der allmählichen Inbesitznahme des Unaussprechlichen, der unkenntlichen Schrift: das Aushalten; ich darf es nicht erschüttern, ich darf es nicht brechen, der Augenblick, wo der Duft des Mohns durch die Felder des Mohns führt. Die Kindheit enthält einen Traum, doch ihre Schrift ist zugleich seine graduelle und irreduzible Ablösung. Das Geheimnis der philosophischen Sprache ist ihr selbständiges Reich der Worte, aber welche Operation führt sie ins wirkliche Leben?

Ein Bild von Cy Twombly macht mich betroffen, aber ich bewohne es nicht. Ich muss selbst sprechen, ich muss mir zeigen, dass es bewohnbar ist. Was wir über ein Bild sagen, hat darum viel mit der Sprache der Philosophie zu tun, jenem Spiegel, der das andere in uns aussetzt.

Das expressive Ziel des Satzes ist sein effektiver Gebrauch der Sprache. Was heißt das? Wir bilden die Wirklichkeit in einem sinnvollen System von Zeichen ab, oder anders ausgedrückt, unsere Wahrnehmung der Außenwelt geschieht durch ein kohärentes System von Abbildbeziehungen, dem wir eine allgemeine Bedeutung der Funktion zuschreiben. Im Werk von Twombly passiert etwas ganz anderes. Die unkenntliche Schrift erlaubt eine Annäherung, deren Wesen so abstrakt ist, wie sie selbst als eine von der Sprache abgezogene Abstraktion darstellt. An die Stelle der Wortes, das wir als Objekt wieder und wieder anwenden, finden wir bei Twombly die Unmittelbarkeit einer Figur der Psyche: das Unaussprechliche des Subjekts als Choreographie der Aneignung. Twomblys „Schrift“ flieht mit dem Herzschlag des Sinns, der auch das Verlorene atmet wie etwas, das nicht zu Ende gebracht, der statt des sprechenden Signifikats des Zeichens nur die Empfindung besitzt. Der Text trägt alles fort in einem Labyrinth von Wegen, aber er kann nicht anhalten, nicht untergehen für das unmögliche Thema, den Augenblick ohne Ausdehnung. Der Disjunktion folgt ein Wesen für nichts. Die hand auf dem Papier ist eine Äußerung ohne Grade, ohne Herrschaft, da sie ohne Ausweg ist. Sie konstruiert nicht, da sie einzig aus sich selbst fortfährt, anhält, bricht. Was sie entdeckt, muss sie unendlich oft wiederholen, neu beginnen: die Phantasie der Aneignung kann nur in der Figur des Verlangens glücklich sein. In allem, was Twombly tut, ist die allmähliche Schrift der Erzählung erloschen: sie soll abwesend sein, keine noch so relative Identität mit ihr vermag sie zum Sprechen zu bringen. Aber was spricht aus ihr?


Das wird nur der erfahren, der diesen herrlich kurzweiligen Aufsatz in dem Buch „Twombly: Das graphische Werk 1953-19842“ nachliest.




Auch Thomas Huber scheint so ein vom Schreiben des Schreibens wegen Besessener. Wortgewaltig verrät er uns in „Die Urgeschichte der Bilder“ die verborgensten Geheimnisse der Kunst oder des Lebens oder beides?


(Von 1977 bis 1978 studierte Huber an der Kunstgewerbeschule Basel, 1979 am Royal College of Art in London, von 1980 bis 1983 an der Kunstakademie Düsseldorf bei Fritz Schwegler. Von 1992 bis 1999 führte er eine Professur an der Hochschule für Bildende Künste, Braunschweig. Von 2000 bis 2002 war er Vorsitzender des Deutschen Künstlerbundes.

In Wikipedia lesen wir folgendes über ihn: Thomas Hubers Malerei ist bestimmt von einer intellektuellen Auseinandersetzung mit Kunst. So schreibt er Texte über seine Bilder oder hält Reden in seinen Ausstellungen. Dadurch erschließen sich Sinngehalt und Aussage der Szenarien, die den gegenständlichen Gemälden zugrunde liegen. Text und Rede erfüllen den Bildraum mit Handlung und die Dinge im Bild mit Bedeutung. Wort und Bild greifen somit ineinander und bleiben dennoch jeweils eigenständig.Hubers Bilder reflektieren immer die Malerei als solche, setzen sich also mit der Frage nach dem im Bild Dargestellten auseinander. Thematisch handeln seine Gemälde immer von Kunst, etwa von den Problemen des Malens, der Perspektive, des Raums, der Figuren im Bild oder der Frage der Repräsentation. Sinnzusammenhänge, die außerhalb des Bildgeschehens angesiedelt sind, kommen für ihn nicht in Frage. Der Sinn von Kunst kann nur in der Kunst selbst gefunden werden. Thomas Huber hat in seinen Reden und Texten einen Sprachduktus gefunden, der den Zuhörer und Leser Schritt für Schritt durch die imaginären Bildräume begleitet. Wer in Thomas Hubers Gedankenwelt eintritt, nimmt teil an seinen Gedanken über die Möglichkeiten der Kunst.)

Ob er das wohl selbst verfasst hat?

Die Urgeschichte der Bilder. Wenn das Bild wie Wasser wär', verbindliche Vorstellung, worunter sich alle Bilder vereinen. Wer hätte nicht Gedanken zum Wasser, Bilder davon, in sich gesammelt, die zum gemeinsamen Urbild geschöpft werden können. Die Wasserfläche als gleichnishafter Ort, wo eine Bedingung beginnt und eine andere aufhört zu sein. Grenze zwischen Wasser und Luft, Berührungsebene zweier Reiche. Dort sehe ich die Bilder. Denn sie sind ein Dazwischen, an ihnen berühren sich zwei Medien. So wie es auch geschieht zwischen Luft und Wasser in den Seen und Meeren groß und weit, wie die lange Zeit, die verging, seit Geschöpfe aus dem Wasser heraus, diese Grenze durchbrechend, an Land gegangen sind. Die Wasserfläche ist das große Bild jenes Ortes uralter Verwandlung. Im Anfang bedeckte Wasser die ganze Erde, das Urmeer erstreckte sich über den ganzen Erdball. So war es ein einziges riesiges und abgrundtiefes Bild. Es war dunkel über dem Meer und kalt. Das Wasser war zu Eis gefroren. Die aufgehende Sonne schien wärmend in dieses eisige Dunkel, schmolz das Eis und verwandelte es in Wasser. Zu Eis gefroren, im festen Aggregatzustand, sind Bilder nicht zu sehen. Erst wenn Licht sie berührt, wenn die Bilder erwärmt werden, wenden sie sich zur Sichtbarkeit. Vom festen Aggregatzustand, dem dunklen Eis vergleichbar, in den flüssigen Zustand gebracht, sind Bilder zu sehen. Bilder sind flüssig. Darum ist Sichtbarkeit ein flüssiger Zustand, gegen Mittag steigt die Sonne höher und entfaltet in ihrem Zenit ihre ganze wärmende Kraft. Das Wasser wird durch die Hitze erwärmt, so daß es sich aus der Bindung der Oberfläche löst, verdampft und als Dunst nach oben steigt. Dort im Himmel sammelt es sich zu Wolken in abwechslungsreichen Formgebilden. Latente Bilder, Bilderkammern, eine nicht auszumalende Fülle von Bildern sind die Wolken am Himmel. In der Nacht, wenn es kühler geworden ist, senkt sich das zum Himmel gestiegene Wasser als Tau wieder auf die Erde herab, es steigen die Bilder als Tau vom Himmel wieder herunter. Diesem Gemälde vom Meer, dem Kreislauf der Bilder, sind vier Aquarien gegenübergestellt. Sie zeigen Ausschnitte aus den Tiefen des Wassers, als wäre es auch die Tiefe seiner Zeiten. Die Aquarien sind Ausschnitte wie kleine Bilder des immens Großen – des Meeres. Im ersten Aquarium sieht man die Urtiere, die Protozoen. Im Urmeer, in der Ursuppe, entstanden durch die Sonneneinstrahlung diese ersten einzelligen Lebewesen. Keime zu differenzierteren Welten. Manchmal, meine ich, ein Bild ganz in seinen Anfängen haltend, es wären ähnliche Wesen, wie die hier gezeigten, die kleinen einzelligen Wesen, die wie im Wasser jetzt durch meine Gedanken schweben, Boten ahnungsvoller Gestalt. Im zweiten Aquarium sieht man die Schwämme, Wesen zwischen einzelliger und mehrzelliger Lebensform. An Land genommen, verhalten sich diese Schwämme wie Wassergefäße, sie sind Bilderspeicher. So, wie sie das Wasser in sich halten, tragen wir unsere Bilder vor dem inneren Auge in uns herum. In das dritte Aquarium habe ich die Latimeria chalumnae gemalt. Sie ist ein Nachfahre des Quastenflossers. Siebzig Millionen Jahre alt ist diese Art der Latimeria – und das ist das Erstaunliche – sie wird heute noch in den Gewässern Australiens gefangen. Ein lebendes Fossil ist sie also. Sie ist die Inkarnation des Schrittes der Lebewesen vom Wasser an Land. Die Latimeria ist die Verkörperung jenes Momentes, da ein Lebewesen sich einen neuen Lebensraum erobert hat. Ihre Flossen sind so ausgebildet, daß sie sich an Land wie aber auch im Wasser bewegen kann. Kiemen- und Lungenatmung erlauben diesem Fisch den Wechsel von einer Wirklichkeit in die andere. Die Evolution hat sich in der Latimeria in einem entscheidenden Moment verewigt. So kann man im folgenden auch die Domestizierung als Erschließung eines neuen Lebensraumes deuten. Im vierten Aquarium sind die Goldfische die verkünstelte Lebensform, zur Zierde gezüchtet, zur Augenfreude gehalten. Ein ästhetischer Zustand, fast nur noch Glanz, ein rotoranger Schimmer im Kontrast zum sumpfig grünen Wasser, in dem diese Tiere ziellos umherwimmeln.

Und da spricht man davon, dass die Malerei tot sei. An anderer Stelle:

Der Bildraum aber, als Erlebnisraum, als Lebenstraum, kann nicht Objekt unseres Begreifens sein. Vielmehr werden wir von so einem Raum ergriffen. Er eröffnet sich uns – wir tauchen hinein. Das Erkennen des Bildraumes, das Wahrnehmen dieses vielversprechenden, verheißungsvollen Lebens-Erlebnis-Raumes ist eine wesentliche Voraussetzung für jenen evolutionären Schritt, der sich zwar mit dem Erscheinen des Bildes in der Menschheitsgeschichte angekündigt hat, aber noch nicht vollzogen ist. Wir stehen darum an einer Schwelle.

Wir sind im Sprung, aber noch davor. Die Geschichte der Bilder, die Kunstgeschichte, ist die Beschreibung der Vorbereitung dieses Sprunges in die Bilder. Im Vergleich zur Zeitspanne, die die Entwicklungsgeschichte durchmisst, ist die der Kunstgeschichte eine kaum wahrnehmbare Zeit. Sie beschreibt das Atemanhalten vor dem Sprung in die Bilder, jenen kurzen Moment, da sich alle Muskeln zum entscheidenden Sprung anspannen.

Die Möglichkeit, in die Bilder einzutreten, darin zu verschwinden, ist erahnbar. Von wenigen einzelnen ist sie bereits vollzogen worden. Sie sind zum Bild geworden, aber noch ist es nicht die Bildung aller. Die Bildung im wahrsten Sinne des Wortes, im umfassendsten Sinne gedacht, lässt erahnen, was mit dem Eintreten aller in die Bilder gemeint ist.

Der Ort dieser Bildung, der Bildraum, ist kein physikalisch messbarer, er ist kein durch Koordinaten zu bestimmendes Volumen. Es ist nicht der Bildraum der Perspektive, von dem ich spreche. Jenes, was räumt im Bildraum, findet sich im Wort Tiefe am genauesten. Die Bildtiefe, die Tiefe des Bildes ist die Weite des Bogens, der sich zwischen der Oberfläche des gemalten Bildes und dem Ort , wohin die Tiefe des Bildes wiest, spannt. Der Bildraum kehrt sich aus der Tiefe, die zwischen Bildoberfläche und darin zur Anschauung Gebrachtem sich auftut, hervor. Es ist die Tiefe zwischen Innerem und Äußerem. Aus der bergenden Farbe wendet sich der entbergende Sinn. In diesem Entbergen öffnet sich der Raum der Bilder. Mit tiefstem Sinn gemalt, entstehen die weitesten Bildräume.

Das Bilden der Bilder, das Malen, ist ein Maßnehmen an dieser Tiefe. Das Bild ist eine Maßnahme, das Bild ist das Maß. Welche Dimension fasst dieses Maß? Wofür ist das Bild der Maßstab? Es misst die lichte Breite zwischen der Farbe und ihrer Bedeutung, den rätselhaften Abstand zwischen dem Zeichen und seinem Sinn. Das Bild durchmisst den Raum von der Erde bis zu den Wolken. Eas sist das Maß für die schmerzliche Entfernung zwischen den menschen und ihrem göttlichen Ursprung. Im Durchmessen von Himmel und Erde zeichnen die Bilder einen Ort aus. Das ahnungsvoll Geschaute, fern Vermutete kehrt im Ort des Bildes als wahrhaftes Maß ein. Dieses maß offenbart sich als Sichtbarkeit. Die Sichtbarkeit ist das Resultat einer Maßnahme. Bilder sind darum das Sichtbare überhaupt, sie sind der ausgezeichnete Ort, wo Sichtbarkeit sich eingelassen hat.



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